Musikdramaturgin Schmid freute sich über den
regen Zuspruch, den die Einführungsvorträge und speziell dieser beim
Publikum fänden. Gut gefüllt das Foyer zum Neuhaussaal - gab's auch
hochwertige Kost 'umasunst'.
Wieder wurde der Interessierte noch aufmerksamer, referierte Raoul Grüneis
über Alban Bergs Spätwerk.
Dirigierte er doch nur so wie er eloquent, fachlich fundiert und ohne Zögern
vorträgt.
Nahm Gerd Albrecht immer noch sehr viel Rücksicht bei seinen Einführungen,
plaudert der Regensburger Generalmusikdirektor über musikalische
Zusammenhänge, ohne das Publikum zu langweilen oder zu überfordern.
Eher fragt sich der Beobachter, was sagt er jetzt gleich, wenn er zum
Flügel strebt und munter die Analyse mit musikalischen Beispielen unterlegt.
Wie in ’Frühlingserwachen’ zeige Wedekind in 'Erdgeist' und 'Büchse der
Pandora', was aus bürgerlicher Scheinmoral werden könne, meinte die
Musikdramaturgin, die für die fabelhaften Übertitel beim 'Maskenball' oder
beim 'Otello' verantwortlich ist und die zur Irreführung des Publikums
beitragen. Bei Lulu kann das immerhin nicht passieren.
Frau Schmid führte aus, Wedekind das 'enfant terrible' der Zeit der Jahrhundertwende deckte auf, sei aber in Konfrontation zum Publikum, zur
Presse und Obrigkeit gewesen. Immerhin habe er auch als Redakteur des 'Simplizissimus' eine Gefängnisstrafe wegen Majestätsbeleidigung zu
absolvieren gehabt.
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Alban Berg habe mit 15 Jahren völlig autodidaktisch angefangen, zu
komponieren, sein Bruder habe heimlich Lieder an Arnold Schönberg gegeben,
der ein außergewöhnliches Talent attestierte, das in der späteren
musikalischen Entwicklung angesiedelt werde, zwischen der Schule Schönbergs und der eines Spätromantikers wie Gustav Mahler.
Helene Berg habe 1969 testamentarisch untersagt, die 'Lulu' aus der 2-aktigen
Fassung zu befreien und in die Endfassung zu führen.
Der dritte Akt von 'Lulu' dürfe von niemandem eingesehen werden, ebenso dürfe
die Foto-Kopie bei der Universal Edition in Wien auch nicht eingesehen
werden.
Der Grund, warum sie sich nicht dazu entschließen konnte, die
fehlenden Stellen im dritten Akt von einem anderen Komponisten fertig
instrumentieren bzw. fertig machen zu lassen, sei folgender:
Nachdem Arnold Schönberg, Anton Webern und Alexander von Zemlinsky nach
Einsicht in das Manuskript erklärten, dieses nicht fertigstellen zu können,
sei die Meinung dieser drei Freunde Alban Bergs bestimmend gewesen, die
'Lulu' nur als zweiaktigen Torso zur Aufführung freizugeben. Sie wisse auch
nicht, warum sie etwas preisgeben solle, was Alban Berg noch gründlich überholen wollte,
bevor er es der
Öffentlichkeit hätte übergeben können.
Sie sei also in der schrecklichen Lage, das, was Alban Berg
sein ganzes Leben vertreten habe, nur sein Bestes zu geben und nur
das freizugeben, wozu er bei jeder Note zu einhundert Prozent
dahinter stehe, zu verweigern, was unfertig geblieben sei.
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Die Regensburger
Fassung werde die beiden von Alban Berg selber fertig gestellten
Akte und einen Epilog umfassen.
Theaterdirektor Weil meinte, es sei uninteressant, darüber zu
spekulieren, aus welchen Gründen Helene Berg, die Fertigstellung
verhindert habe.
Er persönlich habe immer zu der zweiaktigen Fassung tendiert.
Der erste Akt umfasse einen Prolog mit drei relativ kurzen
prägnanten Bildern – das sei fast wie Filmschnittmusik, wo die
Szenen auch ganz knapp endeten, die Übergänge seien rein
bühnentechnische Elemente. Berg als erfahrener Theatermann habe so
die Zeit für die jeweiligen Umbauten gelassen.
Der zweite Akt setze sich davon komplett ab, er spiele in der Villa
der Dr. Schön wie eine schwarze Komödie, der den Sarkasmus in
Wedekinds Text deutlich wiedergebe.
Der dritte Akt zerfranse nach Meinung des Regensburger
Theaterdirektors und habe nicht mehr die Qualität der zwei Akte von
Alban Berg.
Bei der dreiaktigen Fassung frage man sich, hat man hier nun eine
Cerha-Oper mit einem Vorspiel von Alban Berg vor sich.
Vergleichbar sei dies mit der Zu-Endeführung der 'Turandot'.
In Regensburg wird man die Lulu-Suite dem zweiten Akt anschließen,
hierdurch einen Schluss ziehen können wie es schon vor 1979 – dem
Zeitpunkt der Uraufführung des dritten Aktes – nicht unüblich war.
Kraft Amtes widersprach der Regensburger Theaterdirektor seiner
Musik-Dramaturgin, die 'Jack-the-Ripper' als historische Figur
bezeichnet hatte. Für ihn sei der Mörder Lulu’s ein Phantom
geblieben – wie 'Lulu' ein Geschöpf ohne Herkunft.
GMD Grüneis ließ sich aus über die Uraufführung der Zweitfassung
des ’Rattenfängers’ von Friedrich Cerha, nach dessen 'Baal’, bei der er
dem Komponisten assistierte, über den dann gespöttelt wurde, es
handle sich beim 'Rattenfänger' um den vierten Akt von Lulu, da Cerha
sich zu sehr in die Tonsprache Berg’s hineinbegeben habe, zumal
Cerha aus der Schönberg-Nachfolge-Schule komme.
Cerha selber äußerte sich kaum zu seinem dritten Akt 'Lulu', meinte
aber, er würde es heute anders machen.
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Musikdramaturgin
Schmid sprach über die Figur der 'Lulu', die von einem Mann zum
nächsten in einem unendlichen Reigen weitergereicht und von Dr.
Schön immer wieder weiter verheiratet werde. Die erste Ehe zeige
die pure Ironie. Dr. Schön verheirate die sehr junge Lulu mit einem
so alten Greis, den ja bei kleinster Aufregung der tödliche Schlag
treffe.
Die folgenden: der Maler, der Dr. Schön, Alwa Schön – gäben ihr
unterschiedliche Namen und mutmaßten über die Herkunft der Frau.
Die Zeit habe die Titel-Figur immer wieder anders gesehen – immer
aber doch als Prinzip des Sexus und Projektionsfläche der Männer und
deren persönliche Vorstellungen.
Nach Ulrike Prokop lasse sich Lulu selber auf Festlegungen nicht
ein, nicht Ehefrau, nicht heitere Geliebte, nicht ideale Freundin,
nicht Dirne – sie sei alles zugleich und darin läge ihr utopischer
Charakter.
Der Regensburger Theaterdirektor ließ sich vernehmen mit Aussagen
wie:
'Lulu' sei zwar zur Zeit Wedekinds als ein Stück der Unmoral gesehen
worden – er selber sehe aber die die Lulu umgebenden Männer als
unmoralisch – es werde eine amoralische Gesellschaft gezeigt.
Angelegt werde die Produktion nicht in das Fin de Siècle auch nicht
in das Jahr 2007 aber es sei ein Stück der Gegenwart.
'Lulu' sei nicht die aktive Frau, die sich männermordend betätige,
sondern es sei die Frau, um die Männer kreisen und sie für ihr
jeweiliges Geschäft in Besitz nehmen wollen.
So sei man auf Marilyn Monroe gekommen, die als Sexikone von Mann zu
Mann vom Präsidenten der USA an seinen Bruder Robert weitergereicht
wurde – sie, die Monroe habe nie die Wahl gehabt, sondern wurde
gewählt, wurde auch wieder auf Distanz gehalten und dann wieder
entfernt.
Auch das Bild des Malers – von 'Dr. Goll' in Auftrag gegeben – werde
eine heutige Frau zeigen, eine fröhliche 'Lulu' – ähnlich dem Foto der
Monroe mit einem Sonnenschirm mit roten Punkten – in Regensburg wird
es Dr. Goll’s pretty-baby sein in einem baby-doll Hängerchen, wie es
Doris Day in den 50-er Jahren trug.
Neben den wechselnden Männern wandere 'Schigolch' durch das Stück, ein
Ur-Vater, niemand wisse, woher er komme, wohin er gehe, welche
Beziehung er zu Lulu habe, ob es der Vater war, ein pädophiler
Freund-Feind, ein Uralt-Liebhaber, der sich um die 'Lulu' sorge, sich
um 'Lulu' kümmere und in der Alterspyramide noch vor dem 'Dr. Goll' rangiere.
Aber auch die jüngere Generation werde gezeigt: 'ein Athlet', 'ein
Gymnasiast', 'ein Prinz aus Afrika' und natürlich 'Alwa Schön', vom Vater
'Dr. Schön' ganz im moralischen Sinne erzogen, der 'Lulu' seit Zeiten
kennt und sie 'als Halbschwester' liebe.
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Nach dem Versuch des
Regisseurs, die szenische Situation zu erläutern, gab der
Generalmusikdirektor Hinweise zum System der 12-Ton-Musik, die
leider immer noch die Menschen abstoße, als sie zu interessieren,
aber die bei Alban Berg auch noch nicht in der vom Publikum
erwarteten Form zum Tragen komme.
Alban Berg, aus der zweiten Wiener Schule um Schönberg und Anton
Webern, sei immer noch mit seiner Vergangenheit der Spätromantik
verhaftet gewesen.
Alle Komposition der Zeit hätten quasi in der Tristan-Harmonik
geschwelgt, hätten die Spätromantik im Kopf gehabt – Schönberg:
’Verklärte Nacht’ oder Webern: ’Im Sommerwind’ - bis eben Schönberg
gemeint habe, es müsse ein Ende damit haben und Neues sei
erforderlich, um Altes zu überwinden, was Alban Berg nicht für sich
in Anspruch nahm.
Er, der GMD des Theaters der Metropole der Oberpfalz, liebe die
Musik Bergs mehr als die Schönbergs und Weberns zusammen, nicht nur
weil sie noch fasslich sei in der Tonalität, sondern auch und
besonders weil Alban Berg nie aufgehört habe, an die Kraft der
Intervalle zu glauben. Hier unterscheide sich Berg eben grundlegend
von allen seinen Zeitgenossen.
Auch eine 12-Ton-Reihe müsse ja erst einmal gefunden werden, es
klänge immer so, man brauche nur das Kochbuch aufzumachen, die und
die Reihe zu nehmen und es komme schon ein Streichquartett dabei
heraus.
Bei der 12-Ton-Technik trete der Grad, die Wertigkeit der
Inspiration hinter die Konstruktion zurück – er brauche längst nicht
so inspiriert zu sein, wenn der Komponist 12-tönig schreibe.
Wolle man wie Schubert schreiben, dann müsse dem Tonsetzer etwas
einfallen, schreibe er wie Schönberg, müsse ihm auch etwas
einfallen, aber man könne sich sehr mit Konstruktionen helfen, wobei
bevor sich ein Ton wiederholen dürfe, alle 12 Töne des Musiksystem
’abgearbeitet’ sein müssten – das sei – grob gesagt - der
Hintergrund des 12-Ton-Systems.
Alban Berg habe dieses starre 12-Ton-System durchbrochen, da er
erkannte, wähle er diese 12 Töne, dann spiele die Beziehung der Töne
untereinander nur noch eine sehr geringe Rolle. Eine kleine Terz
könne dann eben auch eine große Terz sein – Intervalle spielten
keine Rolle mehr.
Dieses System habe Alban Berg für seine Musik nicht in Anspruch
genommen, sondern für ihn habe die Aussage, der seelische Gehalt
einer Sexte, einer Quinte immer eine Rolle gespielt – in der Lulu
kombiniert mit der 12-Ton-Technik.
Diese Art der Komposition Bergs stehe für Raoul Grüneis in keiner
Form hinter einem 'Tristan' zurück, fasziniere und habe die gleiche
musikalische Tiefe.
So sei auch eine Leitmotivtechnik bei Berg und auch dem Lehrer
Bergs, Franz Schreker in seinem ’Der ferne Klang’ erkennbar - von
Wagner übernommen und weitergeführt, besonders zur Darstellung von
Gefühlen.
In der Spiegelung – die Darstellung des Bogens von Lulu’s Aufstieg
bis zum Höhepunkt der Karriere und dem unaufhörlichen Niedergang -
würden von Alban Berg auch durch die Motive bezogen auf die
einzelnen Personen, wie sie im Prolog vorgestellt wurden, alle
Figuren zum Ende des Werkes, aus den musikalischen Vorgaben des
Prologs schöpfend, zurückgeführt.
Diese Form der Dreiaktigkeit sei aber eine Notwendigkeit, um das
Thema zu Ende zu führen – man könne den Abend nicht damit beenden,
dass Alwa und Lulu sich in den Armen lägen, der 'Absturz der Lulu'
müsse dargestellt werden.
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Nun ist
es nicht so, als würde das Regensburger Publikum mit
einer 'Lulu' überrascht und es bräuchte einen
Theaterdirektor Weil, das Werk auf den Spielplan zu
heben.
In der letzen Produktion war Linda Healey als Berg's
'Lulu' auf der Regensburger Opernbühne und im Schauspiel
in der Inszenierung von Rudolf Zollner waren Frauke
Steiner die 'Lulu', Wolfgang Werthenbach war 'Dr. Schön'
und Mathias Kostja 'Alwa Schön'.
Kandidja Wedekind korrigierte in der Fürstenloge des
Theaters sitzend noch die Aussprache: es heiße nicht
Geschwitz mit der Betonung auf der ersten Silbe, sondern
eben auf der zweiten Silbe.
Also hat Regensburg längst die 'Lulu' geschaut, dass
jemand aus Coburg und Pforzheim kommen müsste.
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