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zählt das Recht zur missverständlichen Überzeichnung.
   
04.01.2010 - dradio.de

 


Thema des Tages

'Tristan und Isolde'

in Hildesheim

   
Kurz nachgefragt

'Betrug auch hier?'

Den Tristan zu dirigieren ist für einen Kapellmeister wie die Teilnahme an Olympischen Spielen für einen Sportler.

Im frisch renovierten Hildesheimer Theater, wo fleißige Handwerker noch kurz vor der Vorstellung an Türen schraubten, fand dieses Ereignis vor vollem Haus und einem bekannt wohlmeinenden Publikum statt.

Auch schwillt die Intendanten-Brust voll Stolz, dieses schwierige Werk seinem Publikum in seinem Haus - wie auch anderenorts in
Regensburg oder in Landshut oder in Braunschweig zu präsentieren, um ihm die Reise nach Bayreuth zu ersparen, wo die Herrscherin: ‘Katharina, die Grobe‘ nur noch höchst zweifelhafte Experimente auf die Festspielbühne bringt.

Ich selbst kenne das Stück sehr genau, da ich in verschiedenen Inszenierungen großartigen Isolden als Brangäne zur Seite stand.

Deshalb drängte sich mir bei der Hildesheimer Inszenierung immer wieder die Frage nach dem ‘Warum?‘ auf, die sich nur mit Tristans oft zitiertem Satz
„Das kann ich dir nicht sagen!“
beantworten lässt.

Warum stehen Tristan und Isolde in ihrer Unterdeck-Kabine gleich am Anfang des ersten Aktes heftig knutschend neben ihrem zerwühlten Bett.

 



Screenshot: https://www.tfn-online.de/ © T. Behind - Photografics
 

Ist es demnach doch schon zum Vollzug gekommen, die Sache ist in Hildesheim doch schon gleich nach Aufgehen des Vorhangs gelaufen. Also kann man sich das langwierige Stück von hier ab sparen.

Ein von mir darob befragter Wagner-Freund meinte mit väterlicher Güte:
„aber sie haben doch ein schlechtes Gewissen!“
Wie goldig!
Warum reist Isolde über die kalte stürmische Irische See im schulterfreien Brautkleid dessen Corsage unvorteilhaft schwappt?
„Das kann ich dir nicht sagen!“

Warum findet der zweite Akt - statt in einem Garten mit hohen Bäumen vor dem Gemach Isoldes - in einer miesen Hafenkneipe statt?

 


Screenshot: https://www.tfn-online.de/ © T. Behind – Photografics
 

Kommt demnächst 'Das Mädchen aus dem goldenen Westen‘, wo Minis Pub gebraucht, wird im Theater Hildesheim?
Das kann ich dir nicht sagen!“

Warum liegen im dritten Akt in Kareol in der Bretagne neben dreckigem Strandgut und dem aus Brechts 'Mutter Courage' offensichtlich übriggebliebenem Handkarren Leuchtbuchstaben herum, die keinen Sinn ergeben?
„Das kann ich dir nicht sagen!“

Warum hüpft der junge Seemann während Tristans erschütternden Fieber-Fantasien dauernd penetrant umher und führt sein sportlich niedliches Körperchen vor?

„Das kann ich dir nicht sagen!“

 


Screenshot:
https://www.tfn-online.de/ © T. Behind - Photografics


Nun gut, das Stück geht zu Ende.
Das Publikum jubelt pflichtschuldigst, denn der tapfere Tenor hat überlebt.
Die Isolde möchte ich demnächst mal als Rosalinde wiedersehen.
Der Dirigent gehört nun zu den Eingeweihten, der Intendant ist voll Selbstgefühl.
Was will man noch?
„Das kann ich dir nicht sagen!“

Frage an die Allgemeinheit:
Wollen die Theater sich endgültig selbst abschaffen?


Kommentar aus dem Publikum:
„Das kann ich dir sagen!
Das wollen die zwar nicht, aber die sind auf dem besten Wege!“

Wie meinte ein Oberbürgermeister einer mittleren Großstadt in Deutschland:

'Wenn es einer Gemeinde finanziell schlechter geht, die Steuergelder nicht mehr so fließen - wie bisher - dann muss bei den Theatern eben eingespart werden. Und da fällt auch dann eine ganze Sparte weg oder das Haus mit eigenem Ensemble wird geschlossen und auf Gastbetrieb umgestellt.'

 

 

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Um 'Missverständnisse' zu vermeiden:


Als Zeitungs- / Theater-Abonnent und Abnehmer von voll bezahlten Eintrittskarten aus dem freien Verkauf verstehe ich diese Besprechungen und Kommentare nicht als Kritik um der Kritik willen,
sondern als Hinweis auf - nach meiner Auffassung - Geglücktes oder Misslungenes.

Neben Sachaussagen enthalten diese Texte auch Überspitztes und Satire.

Hierfür nehme ich den Kunstvorbehalt nach Artikel 5, Grundgesetz, in Anspruch.

Dieter Hansing
 

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