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04.01.2010 - dradio.de

 


Thema des Tages

Machtmissbrauch

  Zitat
https://www.tagesschau.de/kultur/machtmissbrauch-deutsche-theater-100.html

 

Am Aalto-Musiktheater in Essen wirft das Ensemble der Leitung Mobbing und ein vergiftetes Arbeitsklima vor. Der Fall weist Parallelen zu einem Skandal an der Hamburger Staatsoper auf. Liegt es an Einzelpersonen oder an Fehlern im System?

 
Von Florian Schmidt, NDR Kultur

Am Aalto-Musiktheater in Essen steht die künstlerische Leitung unter Druck. Mitglieder des Opern-Ensembles werfen Generalmusikdirektor Andrea Sanguineti und Opern-Intendantin Merle Fahrholz ein vergiftetes Arbeitsklima, Mobbing und einen künstlerischen Niedergang des Hauses vor.

Ähnlich die Vorgänge im Mai und Juni in Hamburg. Dort kritisierten Mitarbeitende des Hamburg Balletts das Verhalten von Generalintendant Demis Volpi als übergriffig und manipulativ. An beiden Häusern kündigten Ensemble-Mitglieder. In Hamburg hat man sich inzwischen von Demis Volpi getrennt.

Volpi selbst reagierte auf die Vorwürfe nicht direkt, äußerte sich aber enttäuscht, dass seine Vision sowohl in künstlerischer Hinsicht als auch "im Hinblick auf eine zeitgemäße Struktur" nicht verwirklicht werden konnte.

Offizielle Entscheidung versus bestehender Vorbehalte

Auch in Essen ist nun eine Entscheidung gefallen: Der Aufsichtsrat der Theater und Philharmonie Essen (TUP), zu der auch das Aalto-Musiktheater gehört, hat hier jedoch beschlossen, dass sowohl Intendantin Fahrholz als auch Generalmusikdirektor Sanguineti im Amt bleiben.

Zwar hatte das Ensemble zuvor öffentlich insbesondere Sanguineti schwer belastet, doch laut der Aufsichtsratsvorsitzenden Barbara Rörig seien die erhobenen Vorwürfe "nicht justiziabel". Eine vorzeitige Abberufung sei daher nicht gerechtfertigt, die Verträge würden aber nicht über 2027 hinaus verlängert. Das Orchester müsse mit der Situation nun "professionell umgehen", sagte Rörig dem WDR - während im Ensemble weiterhin deutliche Vorbehalte bestehen.

Auch an anderen Häusern wie in Kassel, Wien oder München wurden in den vergangenen Monaten strukturelle Vorwürfe gegen einzelne Leitungsmitglieder öffentlich. Ob und inwieweit diese Fälle miteinander vergleichbar sind, ist schwer zu beurteilen. Häufig stehen Aussagen gegen Aussagen, viele Details bleiben im Dunkeln. Juristische Konsequenzen gab es bislang nur selten. Die Frage nach Machtstrukturen im Kulturbetrieb rückt jedoch zunehmend in den Fokus - nicht nur der Öffentlichkeit, sondern auch der Forschung.

Wann beginnt Machtmissbrauch?

Was genau gilt als Machtmissbrauch in künstlerischen Institutionen? Wo liegt die Grenze zwischen fordernder Leitung und übergriffigem Verhalten? Und wie belastbar sind anonyme Vorwürfe?

Juristisch ist der Begriff des Machtmissbrauchs nicht eindeutig definiert. Während etwa sexuelle Belästigung oder Diskriminierung im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) geregelt sind, fällt der Umgang mit Macht oder autoritärem Führungsstil nicht per se unter eine gesetzliche Norm. Arbeitsrechtlich relevant kann ein solches Verhalten dennoch sein - etwa, wenn es um systematische Herabwürdigung, willkürliche Besetzungsentscheidungen oder die Missachtung von Fürsorgepflichten geht.

Dass sich Betroffene anonym äußern, hat oft strukturelle Gründe. "In der Kulturbranche herrscht ein hoher Leistungsdruck, der Markt ist eng, viele Arbeitsverhältnisse sind befristet. Das sorgt für Abhängigkeiten - und dafür, dass sich viele nicht trauen, offen zu sprechen", sagt WDR-Journalist und Theaterkritiker Stefan Keim, der zum Fall Essen recherchiert hat.

Strukturelle Probleme als Ursache

Theaterwissenschaftler Thomas Schmidt von der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main hat eine groß angelegte Studie zur Thematik veröffentlicht. Für ihn ist klar: Es handelt sich nicht nur um Einzelfälle, sondern um strukturelle Probleme im System.

"An etwa jedem dritten oder vierten Theater sind die Machtverhältnisse in der Leitungsspitze grenzwertig", sagt Schmidt. Die Gründe dafür sieht er unter anderem in überholten Führungsstrukturen. Intendantinnen oder Generalmusikdirektoren tragen häufig allein die Verantwortung für hochkomplexe Betriebe mit mehreren Hundert Mitarbeitenden - ohne dafür systematisch auf Eignung geprüft zu werden.

Oft unzureichende Eignungsprüfung

In den meisten deutschen Theatern gibt es keine Assessment-Verfahren oder psychologische Eignungstests für Spitzenpositionen - obwohl deren Entscheidungen oft weitreichende Folgen haben. Schmidt verweist auf ein Beispiel aus Zürich, wo Kandidatinnen und Kandidaten für Leitungsfunktionen anderthalb Tage lang psychologisch begleitet und geprüft werden. Solche Verfahren könnten helfen, Konflikte frühzeitig zu vermeiden.

Zudem fehle es in vielen Häusern an demokratischen Strukturen, kritisiert Schmidt. Während Orchester häufig durch gewählte Vorstände mitreden, hätten Schauspiel- oder Opern-Ensembles oft keine vergleichbaren Gremien. Die Sorge, durch Kritik den Vertrag nicht verlängert zu bekommen, sei weit verbreitet.

Was tun bei Machtmissbrauch?

Was also können Betroffene tun, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen? Claudia Schmitz, geschäftsführende Direktorin des Deutschen Bühnenvereins, verweist auf betriebliche Vereinbarungen, die in den Mitgliedshäusern umgesetzt wurden: "Es gibt an den Theatern verpflichtend eine Beschwerdestelle und interne Ansprechpartner." Darüber hinaus hätten viele Häuser Leitbilder entwickelt, in denen geregelt ist, wie mit Macht umgegangen wird und welche Konsequenzen bei Verstößen drohen, so Schmitz.

Der Bühnenverein habe außerdem eine Toolbox mit Checklisten, Good-Practice-Beispielen und Fortbildungen entwickelt, um einen Werte-basierten Führungsstil zu fördern, erklärt die Direktorin. Falls es an einem Haus keine klaren Regelungen gebe, könnten sich Betroffene an den Betriebs- oder Personalrat wenden.

In besonders schweren Fällen - etwa bei sexueller Belästigung - sei die Themis-Vertrauensstelle zuständig. Für allgemeinen Machtmissbrauch existiere jedoch bislang keine bundesweite externe Anlaufstelle.

Ein System in Bewegung

Auch wenn sich viele der aktuellen Fälle bislang nicht juristisch klären ließen, beobachten Expertinnen und Experten einen Wandel. Die öffentliche Aufmerksamkeit nehme zu, der Druck auf die Institutionen steige - ebenso wie der Wunsch nach Reformen. Die Debatte erinnert in Teilen an die #MeToo-Bewegung, auch wenn es in vielen Fällen nicht um sexuelle Gewalt geht, sondern um strukturelle Machtverhältnisse.

"Ich bin optimistisch, dass sich etwas ändert", sagt Theaterwissenschaftler Thomas Schmidt. "Aber Veränderung passiert nicht von selbst. Sie braucht Druck - von innen und von außen."

In Hamburg jedenfalls scheint es Bewegung zu geben: Für die Findung einer neuen Leitung der Staatsoper sollen die Beschäftigten "mitgenommen werden", so Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda.

Dieses Thema im Programm:
Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 30. Juni 2025 um 20:20 Uhr.