Am Aalto-Musiktheater in Essen wirft das Ensemble
der Leitung Mobbing und ein vergiftetes Arbeitsklima vor. Der Fall weist
Parallelen zu einem Skandal an der Hamburger Staatsoper auf. Liegt es an
Einzelpersonen oder an Fehlern im System?
Von Florian Schmidt, NDR Kultur
Am Aalto-Musiktheater in Essen steht die künstlerische
Leitung unter Druck. Mitglieder des Opern-Ensembles werfen
Generalmusikdirektor Andrea Sanguineti und Opern-Intendantin Merle
Fahrholz ein vergiftetes Arbeitsklima, Mobbing und einen künstlerischen
Niedergang des Hauses vor.
Ähnlich die Vorgänge im Mai und Juni in Hamburg. Dort
kritisierten Mitarbeitende des Hamburg Balletts das Verhalten von
Generalintendant Demis Volpi als übergriffig und manipulativ. An beiden
Häusern kündigten Ensemble-Mitglieder. In Hamburg hat man sich
inzwischen von Demis Volpi getrennt.
Volpi selbst reagierte auf die Vorwürfe nicht direkt,
äußerte sich aber enttäuscht, dass seine Vision sowohl in künstlerischer
Hinsicht als auch "im Hinblick auf eine zeitgemäße Struktur" nicht
verwirklicht werden konnte.
Offizielle Entscheidung versus bestehender Vorbehalte
Auch in Essen ist nun eine Entscheidung gefallen: Der
Aufsichtsrat der Theater und Philharmonie Essen (TUP), zu der auch das
Aalto-Musiktheater gehört, hat hier jedoch beschlossen, dass sowohl
Intendantin Fahrholz als auch Generalmusikdirektor Sanguineti im Amt
bleiben.
Zwar hatte das Ensemble zuvor öffentlich insbesondere
Sanguineti schwer belastet, doch laut der Aufsichtsratsvorsitzenden
Barbara Rörig seien die erhobenen Vorwürfe "nicht justiziabel". Eine
vorzeitige Abberufung sei daher nicht gerechtfertigt, die Verträge
würden aber nicht über 2027 hinaus verlängert. Das Orchester müsse mit
der Situation nun "professionell umgehen", sagte Rörig dem WDR
- während im Ensemble weiterhin deutliche Vorbehalte bestehen.
Auch an anderen Häusern wie in Kassel, Wien oder München
wurden in den vergangenen Monaten strukturelle Vorwürfe gegen einzelne
Leitungsmitglieder öffentlich. Ob und inwieweit diese Fälle miteinander
vergleichbar sind, ist schwer zu beurteilen. Häufig stehen Aussagen
gegen Aussagen, viele Details bleiben im Dunkeln. Juristische
Konsequenzen gab es bislang nur selten. Die Frage nach Machtstrukturen
im Kulturbetrieb rückt jedoch zunehmend in den Fokus - nicht nur der
Öffentlichkeit, sondern auch der Forschung.
Was genau gilt als Machtmissbrauch in künstlerischen
Institutionen? Wo liegt die Grenze zwischen fordernder Leitung und
übergriffigem Verhalten? Und wie belastbar sind anonyme Vorwürfe?
Juristisch ist der Begriff des Machtmissbrauchs nicht
eindeutig definiert. Während etwa sexuelle Belästigung oder
Diskriminierung im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) geregelt
sind, fällt der Umgang mit Macht oder autoritärem Führungsstil nicht per
se unter eine gesetzliche Norm. Arbeitsrechtlich relevant kann ein
solches Verhalten dennoch sein - etwa, wenn es um systematische
Herabwürdigung, willkürliche Besetzungsentscheidungen oder die
Missachtung von Fürsorgepflichten geht.
Dass sich Betroffene anonym äußern, hat oft strukturelle
Gründe. "In der Kulturbranche herrscht ein hoher Leistungsdruck, der
Markt ist eng, viele Arbeitsverhältnisse sind befristet. Das sorgt für
Abhängigkeiten - und dafür, dass sich viele nicht trauen, offen zu
sprechen", sagt WDR-Journalist und Theaterkritiker Stefan Keim,
der zum Fall Essen recherchiert hat.
Theaterwissenschaftler Thomas Schmidt von der Hochschule
für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main hat eine groß
angelegte Studie zur Thematik veröffentlicht. Für ihn ist klar: Es
handelt sich nicht nur um Einzelfälle, sondern um strukturelle Probleme
im System.
"An etwa jedem dritten oder vierten Theater sind die
Machtverhältnisse in der Leitungsspitze grenzwertig", sagt Schmidt. Die
Gründe dafür sieht er unter anderem in überholten Führungsstrukturen.
Intendantinnen oder Generalmusikdirektoren tragen häufig allein die
Verantwortung für hochkomplexe Betriebe mit mehreren Hundert
Mitarbeitenden - ohne dafür systematisch auf Eignung geprüft zu werden.
Oft unzureichende Eignungsprüfung
In den meisten deutschen Theatern gibt es keine
Assessment-Verfahren oder psychologische Eignungstests für
Spitzenpositionen - obwohl deren Entscheidungen oft weitreichende Folgen
haben. Schmidt verweist auf ein Beispiel aus Zürich, wo Kandidatinnen
und Kandidaten für Leitungsfunktionen anderthalb Tage lang psychologisch
begleitet und geprüft werden. Solche Verfahren könnten helfen, Konflikte
frühzeitig zu vermeiden.
Zudem fehle es in vielen Häusern an demokratischen
Strukturen, kritisiert Schmidt. Während Orchester häufig durch gewählte
Vorstände mitreden, hätten Schauspiel- oder Opern-Ensembles oft keine
vergleichbaren Gremien. Die Sorge, durch Kritik den Vertrag nicht
verlängert zu bekommen, sei weit verbreitet.
Was also können Betroffene tun, wenn sie sich ungerecht
behandelt fühlen? Claudia Schmitz, geschäftsführende Direktorin des
Deutschen Bühnenvereins, verweist auf betriebliche Vereinbarungen, die
in den Mitgliedshäusern umgesetzt wurden: "Es gibt an den Theatern
verpflichtend eine Beschwerdestelle und interne Ansprechpartner."
Darüber hinaus hätten viele Häuser Leitbilder entwickelt, in denen
geregelt ist, wie mit Macht umgegangen wird und welche Konsequenzen bei
Verstößen drohen, so Schmitz.
Der Bühnenverein habe außerdem eine Toolbox mit
Checklisten, Good-Practice-Beispielen und Fortbildungen entwickelt, um
einen Werte-basierten Führungsstil zu fördern, erklärt die Direktorin.
Falls es an einem Haus keine klaren Regelungen gebe, könnten sich
Betroffene an den Betriebs- oder Personalrat wenden.
In besonders schweren Fällen - etwa bei sexueller
Belästigung - sei die
Themis-Vertrauensstelle zuständig. Für allgemeinen Machtmissbrauch
existiere jedoch bislang keine bundesweite externe Anlaufstelle.
Ein System in Bewegung
Auch wenn sich viele der aktuellen Fälle bislang nicht
juristisch klären ließen, beobachten Expertinnen und Experten einen
Wandel. Die öffentliche Aufmerksamkeit nehme zu, der Druck auf die
Institutionen steige - ebenso wie der Wunsch nach Reformen. Die Debatte
erinnert in Teilen an die #MeToo-Bewegung, auch wenn es in vielen Fällen
nicht um sexuelle Gewalt geht, sondern um strukturelle
Machtverhältnisse.
"Ich bin optimistisch, dass sich etwas ändert", sagt
Theaterwissenschaftler Thomas Schmidt. "Aber Veränderung passiert nicht
von selbst. Sie braucht Druck - von innen und von außen."
In Hamburg jedenfalls scheint es Bewegung zu geben: Für
die Findung einer neuen Leitung der Staatsoper sollen die Beschäftigten
"mitgenommen werden", so Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda.
Zitatende
Um 'Missverständnisse' zu vermeiden:
Als Zeitungs- / Theater-Abonnent und Abnehmer von voll
bezahlten Eintrittskarten aus dem freien Verkauf verstehe ich
diese Besprechungen und Kommentare nicht als Kritik um der
Kritik willen,
sondern als Hinweis auf - nach meiner Auffassung - Geglücktes
oder Misslungenes.
Neben Sachaussagen enthalten diese Texte auch Überspitztes und
Satire.
Hierfür nehme ich den Kunstvorbehalt nach Artikel 5,
Grundgesetz, in Anspruch.